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„Wir sind ein wichtiger Beitrag zur Gesellschaft“ – oder: Ein Gespräch über das Altern

  • von und mit Otfried Höffe im Gespräch
  • 08 Sept., 2018
Älter werden ist oft negativ besetzt. Dabei können die Erfahrungen von älteren Menschen so wertvoll sein, sagt Otfried Höffe. In seinem Buch “Die hohe Kunst des Alterns“ plädiert der Philosoph für ein positiveres Selbstbild der älteren Generationen. 

In dem Zusammenhang, bereits im Jahre 2001 erschien das von mir herausgegebene Buch “Die Kunst des Alterns (PAM), als ein Konferenz-Reader der meinerseits initiierten und verantworteten sog. “Kühlungsborner-Gespräche“ und späteren “Heiligendammer-Gespräche“ bzw. dem “FORUM HafenCity Hamburg“ – einer Denk- und Innovationswerkstatt im Gesundheitswesen.

Zum 2018er Gespräch: Maike Albath vom Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Philosophen Otfried Höffe über das Altern …

Maike Albath: Jugend gilt bei uns als ein Wert und wird zelebriert, während das Alter eher große Ängste auszulösen scheint. Die Formulierung „alternde Gesellschaft“ klingt jedenfalls wie eine Bedrohung. Dabei könnte man das Älterwerden auch als Chance begreifen. Der Philosoph Otfried Höffe, viele Jahre lang Professor in Sankt Gallen und Zürich, unternimmt in seinem neuen Buch diesen Versuch: „Die hohe Kunst des Alterns: Kleine Philosophie des guten Lebens“ heißt sein Leitfaden. Er sitzt jetzt in Tübingen im Studio. Guten Tag!

Otfried Höffe: Guten Tag, Frau Albath!

Albath: Was fasziniert Sie denn am Älterwerden?

Höffe: Natürlich ist es mal eine Gemengelage von Interessen. Als erstes vielleicht dieses: Alle Lebewesen altern, aber nur der Mensch weiß darum, er erlebt das Altern, in der Jugend bei den Eltern, Lehrern und Großeltern, später an sich selbst. Also nur der Mensch denkt über das Altern nach. Das Altern hat also eine anthropologische Bedeutung.

Albath: Die Kinder sind ja oft fasziniert von den Großeltern. Es ist also eigentlich gar nicht so, dass das unbedingt als etwas Negatives gesehen wird.

Höffe: Das ist völlig richtig. Ich erinnere mich, als Fünf-, Sechsjähriger war ich viel mit meinem Großvater unterwegs, und auch heute gilt es: Wir haben sechs Enkelkinder, die sich immer freuen, wenn sie Großmama oder Großpapa wiedersehen und gerne mit uns plaudern.

Spannungsfeld zwischen Alterslob und Altersschelte

Albath: Nun wird aber kulturgeschichtlich – das stellen Sie in Ihrem Buch dar – Altern oft als ein Mangel, als ein Verlust gedeutet. Woher kommt das?

Höffe: Natürlich dürfte ich gerne festhalten, es gibt zwei Pole, zwei Grundtypen der Altersbetrachtung. Das eine ist das Alterslob, dort wird das Altern als Chance mit einer Würde gesehen, und das andere ist die Altersschelte, die Klage über den Verfall, über die Schwäche. Beides findet sich seit Jahrhunderten in allen Kulturen, und gerade über die Würde des Alters gibt es ganz großartige Bemerkungen. Ich zitiere nur mal einen, vielleicht Theodor Fontane: Man wird nicht älter, sondern besser. Also neben der Altersschelte, die es auch gibt, sollte man dieses Alterslob nicht vergessen.

Albath: Nennen Sie doch noch mal ein paar Beispiele, Herr Höffe, wo kommt es vor. Ich erinnere mich an Traktate aus dem Lateinunterricht, da ist es ja auch ein großes Thema bei den alten Philosophen in der Antike.

Höffe: Ja, die sind nicht tot, weil Sie vom Lateinunterricht sprechen. Also „Über das Alter“ ist ein klassischer Titel, besonders gut etwa von Cicero traktiert, formuliert, und er spricht von der Würde, vom gewichtigen Ernst und vom respekteinflößenden Ansehen, das ältere Leute gewinnen. Ähnliches – springen wir mal über Jahrhunderte – bei Jakob Grimm, der vom Glück des Alterns spricht, wo die Gelassenheit und die Heiterkeit in den Vordergrund treten. Nicht zuletzt – fast die Gegenwart – Bloch, der das Alter als die Zeit der Ernte bezeichnet.

„Jedem Menschen droht, dass er älter wird“

Albath: Und ein paar Beispiele noch für das Altersschelte, welche wären das, wer hat sich darüber besonders geärgert, dass die Kräfte nachlassen?

Höffe: Es gibt die einmal in den Komödien von der Antike, dann finden wir den Hinweis, nehmen wir mal Theresias, der blinde Ratgeber, und Warner den Griechen, der ist sozusagen beides. Einmal steht er für den Verfall, aber andererseits steht er auch dann eben für die Lebensweisheit, die im Alter hervorkommt. Die große Altersschelte ist sogar, wenn man an die Figuren, die Klassiker, denkt, eher seltener. Das kommt ja vielleicht aus einer gewissen Lebensweisheit, das, was jedem Menschen droht, dass er älter wird, dann gebrechlich wird, dass man das nicht in den Vordergrund schiebt, sondern sieht, was für Möglichkeiten dann immer noch bestehen, und gerade die Leute, die sich zu Wort melden, sind ja Menschen – ich denke jetzt an Hermann Hesse –, die wissen, das Altern, das Älterwerden ist eine Kunst, das muss man lernen, aber sie sind dann oft stolz darauf, dass sie es auch gelernt haben – allerdings nicht wenig und nicht selten, nicht ganz ohne Mühen.

Albath: Es gibt das Bild – das klang jetzt bei Ihnen auch an – des alten weisen Mannes. Das kommt in der römischen Antike zumindest bei einigen Autoren vor, dann auch in der muslimischen Kultur. Das erzählen Sie auch in Ihrem Buch. Es gab aber auch so etwas wie die Berliner Altersstudie. Ich erinnere mich noch an den Altersforscher Paul Baltes. Wie könnte man diese Umwertung denn stärken, Herr Höffe?

Höffe: Zunächst darf ich ein bisschen stolz sein, dass ich bei dieser Altersstudie nicht direkt mitgewirkt habe, aber Herr Baltes hat dann später eine Akademiengruppe initiiert oder ins Leben gerufen mit der Leopoldina und der Acatech (Anm.d.Red. Deutsche Akademie der Technikwissenschaften), und dort durfte ich viele Jahre mitarbeiten zum Thema Altern in Deutschland.

Albath: Aha, und was haben Sie da gemacht?

Höffe: Das Spannende war ja, wir haben immer wieder Fachleute eingeladen, Fachleute aus den verschiedensten Disziplinen. Ich war sozusagen als Philosoph zuständig. Wir haben dann versucht, die verschiedenen Perspektiven, unter anderem die Chance des Alters, aber auch die Gebrechlichkeit, wie müssen wir die Altersdiskurse führen, wieso kommt es, dass wir nur von der alternden Gesellschaft sprechen, obwohl wir eigentlich – das war unser Stichwort dann – von gewonnen Jahren reden müssen.

„Wir bleiben länger jung“

Albath: Wenn man jetzt so allgemeingesellschaftlich das Ganze ein bisschen betrachtet, dann fällt ja auf, dass die Alten auch als Konsumgruppe entdeckt werden, auch immer stärker. Es gibt viele Produkte extra für alte Menschen, aber auch viele Filme. Das sind dann manchmal auch sehr klischierte Bilder. Greift da mitunter auch ein ganz ökonomisches oder ökonomistisches Verständnis des Älterwerdens? Das geht ja dann wieder in eine fatale Richtung.

Höffe: Also die Ökonomie hat immer ein Gewicht. Andererseits dürfen wir nicht vergessen, wenn ältere Frauen eben die Frauenzeitschrift nicht für 30-Jährige, sondern für 60- und Über-60-Jährige lesen wollen, ist das ja ein Wechselspiel. Die Nachfrage wird nicht einfach sozusagen provoziert, sondern die besteht dann. Kreuzfahrten werden viel von Rentnern und Pensionären bedient, Kulturfahrten, und vor allem auch – ich war ja hier, Tübingen ist ja mein Hauptort gewesen in den letzten Jahren – in der Philosophie gibt es diese sogenannten Seniorenuniversitäten oder auch schlicht die Studien generale, und in denen ist der Anteil der älteren Leute sehr, sehr hoch. Das sind sehr aufmerksame, sehr wissbegierige Menschen, und die beweisen eben, dass das Stichwort „gewonnene Jahre“ nicht uns eingeredet wird, sondern wir erleben das. Wir bleiben sozusagen länger jung, und das, was früher der 60- oder 70-Jährige war, ist heute jemand, der schon fast 80 geworden ist. Auf jeden Fall sind sicherlich zehn, vielleicht fünfzehn Jahre, die wir gewonnen haben, in vieler Hinsicht – sozial, emotional, geistig und auch körperlich.

Albath: „Die hohe Kunst des Alterns“ lautet der Titel einer lebensphilosophischen Abhandlung von Otfried Höffe, der heute in der „Lesart“ auf Deutschlandfunk Kultur zu Gast ist. Sie haben jetzt eingangs auch schon über diesen wirtschaftlichen Aspekt gesprochen. Ich denke, da könnte man doch auch sehr viel kritischer sein. Ist es nicht so, dass gerade in unserem Selbstverständnis in der Gesellschaft immer nur die Jungen als Wert gelten, dass das an sich schon etwas sehr, sehr Positives ist, während das Alte eher abgewertet wird. Da möchte ich doch noch mal ein bisschen versuchen zu verstehen, wie Sie sich dagegen richten wollen.

Höffe: Also zunächst einmal darf ich ein bisschen skeptisch sein. Es ist in der Tat, die Menschen wollen jung bleiben, andererseits appelliert man aber auch an die Erfahrung der Älteren, und wenn man dann hinschaut, Ältere wie Großeltern helfen doch ihren Enkelkindern oder zunächst mal ihren Kindern. Unter den Ehrenamtlichen ist der Anteil der Älteren extrem hoch. Also ich sehe beides, einmal ein sozusagen Loblied auf die Jugend, und manchmal will man ja auch sozusagen 20 Jahre oder 30 Jahre jünger sein. Aber andererseits, denken Sie, selbst in den Filmen: Mir fällt gerade so ein, in einem James Bond, in einem neueren James Bond wurde eine ältere Frau genommen, die ist über 50 Jahre alt als James-Bond-Girl – gab es früher nur die 30- oder 40-Jährigen. Man sieht eben, auch wenn man in die Gesichter schaut, eine Frau von 50 oder 60 Jahren zeigt auch Lebenserfahrung, und ob da zwei Falten hinzukommen, ist eigentlich belanglos gegen ein zwar sehr glattes, jugendliches Gesicht, von dem man sagt, es ist schön, dass dieses Gesicht noch von Jugend strahlt, aber das hat das Leben noch vor sich und muss sich noch bewähren.

„Ich bin ja auch nicht mehr ganz jung“

Albath: Es ist interessant, dass Sie jetzt gerade auch eine Frau als Beispiel nehmen. Da muss vielleicht auch noch eine Umwertung stattfinden, weil man Männer ja, die älter wurden, interessant fand, und Frauen immer eher abgewertet hat. Also das ist vielleicht auch noch eine Notwendigkeit, die wir hier spüren, die wir hier wahrnehmen.

Höffe: Das ist ganz sicher so der Fall, aber wenn ich dann auch wieder schaue, wir können auch wieder in die Vergangenheit schauen: Von Albrecht Dürer gibt es das Bild von seiner Mutter, ist so ein wunderbares Bild, wie das Alter, man kann nicht sagen: gelobt wird, aber doch in seiner Realität und Chance dargestellt wird. Das ist eine Frau, die viel im Leben geleistet hat, sicher auch viel gearbeitet hat und Lebenserfahrung und vielleicht sogar einen Hauch von Gelassenheit, vielleicht sogar Heiterkeit ausstrahlt. Bei den Frauen ist ja vielleicht der Jugendwahn, wie es etwas übertrieben gesagt wird, noch stärker, weil in Sachen Kosmetik und entsprechende Schönheitsberatungen und Anti-Aging die Frauen ja wohl die primäre Zielgruppe darstellt, und hier muss man sehen, wenn ich da so in meinem Umfeld gucke – ich bin ja auch nicht mehr ganz jung, und Freunde und Freundinnen sind ja auch in diesem Alter –, spielt das eine Rolle, dass man versucht, eine schöne Haut und eine straffe Gestalt zu haben, aber man gibt auch sich damit … gibt sich ab klingt schon wieder negativ. Man weiß, dass man älter geworden ist und weiß es auch zu schätzen, dass man ein Leben gelebt hat und auch noch ein paar Jahre, vielleicht sogar ein, zwei Jahrzehnte vor sich hat.

Albath: Aber vielleicht ist es doch auch so, dass bei uns diese Vorstellung des Machbaren bestimmt ist, dass es um Schönheits-OPs, die Sie ja gerade nannten, geht, und dass Versehrtheit grundsätzlich, auch Krankheit so wenig Platz hat. Also da müsste sich doch auch noch was ändern.

Höffe: Also sich mit Krankheit auseinandersetzen kennen wir. Andererseits haben Sie recht, die Machbarkeit ist in den Vordergrund getreten, aber die Machbarkeit findet immer wieder Grenzen. Wir müssen aus innen heraus versuchen, jung zu bleiben und nicht nur, indem wir Cremes auf die Haut kleben.

„Das Ehrenamt in Deutschland blüht“

Albath: Sollten sich vielleicht auch ganz einfach die älteren Menschen wehren?

Höffe: Das sollten sie auch, aber zunächst mal, würde ich sagen, durch das Vorbild. Sie können natürlich auch in Sendungen auftreten, in Zeitungen auftreten und vielleicht sogar mal ein Manifest verfassen, aber noch wichtiger finde ich, durch das Vorbild – und da darf ich es wiederholen –, Eltern und Großeltern helfen ihren Kindern und Enkelkindern viel länger, als dass sie auf deren Hilfe angewiesen sind. Das Ehrenamt in Deutschland, das ja blüht, könnte ohne die Älteren, ohne Rentner und Pensionäre nicht fortbestehen, und insofern ist es auch eine falsche Wahrnehmung, und da haben Sie recht, da müsste man immer wieder betonen, ja, wir Älteren leisten ja sehr viel, und wir sind gar nicht sozusagen auf dem Abfallhaufen der Ökonomie. Wir sind ein wichtiger Beitrag zur Gesellschaft, zum Zusammenleben, zum Zusammenhalt, und das nehme man doch bitte zur Kenntnis.

Albath: Und da müsste sich vielleicht auch etwas an dieser Tendenz zur Entmündigung ändern und an der Vorstellung einer Versorgungsgesellschaft und möglicherweise auch an der Medizin. Wie könnte eine sinnvolle Medizin aussehen, die auch nicht etwas damit zu tun hat, dass es nur darum geht, nicht sterben zu können, sondern die etwas anderes bietet, Herr Höffe?

Höffe: Wichtig ist vielleicht auch der Grundsatz, Alter ist keine Krankheit. Die Altersheilkunde ist eine Kunst des Lebens. Man stirbt nicht am Alter, sondern im Alter, und Ärzte und Pflegekräfte müssen sich darauf einstellen, und soweit ich sehe, sind die zumindest auf guten Wegen, aber wiederum in der Öffentlichkeit und eventuell vielleicht sogar letztlich in der Gebührenordnung für Ärzte müsste das einen stärkeren Niederschlag finden. Nicht, dass primär die Radiologen und andere Apparatemediziner an der Spitze der ärztlichen Honorierung stehen, sondern Leute, in denen das Wort eine Rolle spielt und eine sehr langsame und gründliche Zuwendung, und dazu gehört geriatrische Medizin ganz ohne Zweifel.

Albath: Wie ist es mit ein, zwei lebenspraktischen Hinweisen, die Sie geben können zum Schluss, Herr Höffe?

Höffe: Ich habe mal von den vier L gesprochen. Vier L, das bedeutet: Laufen, lernen, lieben, lachen. Laufen, das bedeutet, man soll sich körperlich betätigen. Lernen, also geistig frisch bleiben, unter anderem zum Beispiel Bücher lesen oder in ein Studium generale gehen. Lieben, Sozialkontakte pflegen, und Lachen, also die emotionale Seite nicht vergessen. Wir sollten nicht nur mit Todernst unser Leben führen und auch nicht todernst unser Altersleben gestalten.

Albath: Also ein paar lebenspraktische Empfehlungen von Otfried Höffe. Wir sprachen über sein Buch „Die hohe Kunst des Alterns: Kleine Philosophie des guten Lebens“. Es liegt vor bei C.H. Beck, 188 Seiten für 18 Euro. Herzlichen Dank!

Höffe: Herzlichen Dank, Frau Albath!

Im Gespräch: Prof. em. Dr. phil. Dr. h. c. mult. Otfried Höffe | Leiter der Forschungsstelle für politische Philosophie, Eberhard Karls Universität Tübingen


Hinweis DLF Deutschlandradio Kultur vom 08.09.2018: "Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen."


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Otfried Höffe über „Utopia“ – „Vorbild für eine ganz neue literarische Gattung“
(Deutschlandfunk Kultur, Interview, 19.12.2016)

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Digitales Lernen für Senioren – Nachhilfe für Silver Surfer
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von Peter-Alexander Möller 25 Jan., 2019

Unterricht ist ein Teil der Einwirkungs- und Arbeitsmöglichkeiten, welche die Schule hat. Keineswegs jedoch ist Unterricht deren zentrales Arbeitsfeld. Vieles von dem, was dem Kind und Jugendlichen zu seinem Erwachsenwerden gemäß und nützlich ist, sprengt in natürlicher Weise den Unterrichtsrahmen. All die Möglichkeiten, über welche allein die Schule verfügt, um einerseits Erziehung ausüben und andererseits Bildung legen zu können, gehen weit über die “reine Unterrichterei“ hinaus. Das originäre Arbeitsfeld der Schule ist ein Offenes, dies um Einwirkung zu geben bzw. überhaupt einen Einfluss auf das Kind und den jungen Menschen haben zu können. Und der viel gescholtene Bildungsbegriff, mit welchem wir ebenso selbstverständlich bis philiströs umgehen, er ist geradezu hoffnungslos veraltet. Doch bitteschön, was ist Bildung?

Was beispielsweise muss der Abiturient wissen? Klar, dieser Abschluss gilt nicht für alle. Kann und soll er auch nicht. Wohl aber sollte der derzeit höchste deutsche Schulabschluss – verstanden als Nachweis der uneingeschränkten Studierbefähigung und allgemeinen Hochschulreife – sozusagen “als Start ins Leben“ seine ihm hoch zugeteilte Geltung auch auf den Prüfstand stellen können: Es geht um ein recht umfängliches Reifezeugnis also. Ist es das? Im Sinne von “Reife“ müsste dann davon ausgegangen werden, das zuvor vermittelt bekommen zu haben, was der junge Mensch zum Leben braucht. Und, was denn braucht er? Dass er sich im Leben behaupten kann. Wenn dem so ist, sollten wir ihm das auch beibringen. Wie er dies auf “seinem Wege“ im Einzelnen macht und seine Befähigung fürs Leben im Sinne von “Reife“ erwirbt, ist letztendlich seine Sache. Es gibt nicht immer nur den einen Weg. Und nicht jedes Kind, jeder Mensch ist gleich. Nicht jede Entwicklungsstufen und -phasen verlaufen synchron. Die Einengung von Schule auf eine reine “Ausbildungsstätte mit sog. guten, richtliniengemäßen Unterricht“, welche tagtäglich irgendwelche Standards einer mehr oder weniger eindimensionalen Wissensgesellschaft “dozieren“ oder sich selbst via Suchmaschinen beibringen lässt, die allesamt am Ende maßgeblich auf die “Ökonomie des Lebens“ und eine alerte Marktteilnahme des Einzelnen hinauslaufen, ist allerdings grundfalsch und wohl kaum bildend. Eine solche Schule ist nicht mehr zeitgemäß bzw. ein Atavismus par excellence. Anders hingegen wäre es, wenn die pädagogischen Möglichkeiten konsequent genutzt und in der Schule entsprechend in den Vordergrund gestellt werden würden.

Wie denn soll Schule heute aussehen? Schule hat letztendlich dem jungen Menschen dabei zu helfen, zu “seiner“ Werte- und eigenen Persönlichkeitsbildung zu kommen. Werde der du bist. Alles, was die Schule dafür als nötig erachtet, muss sie an den jungen Menschen heranbringen. Damit wären wir sogleich mitten bei der Frage nach den Lehrplänen oder Richtlinien. Doch was sind diese eigentlich genau? Auf jeden Fall nicht etwas, was von irgendeiner Stelle fest verordnet ist, welche glaubt, sie hätte genau die Funktion, dass sie dies so machen darf. Es ist im Grundsatz vielmehr das, was fürs Kind notwendig ist. Um jedoch darüber und letztendlich “dem Kinde gemäß“ entscheiden zu können, müssen wir dem Kind zunächst einmal zuhören und genau hinhören. Dafür müssen wir sozusagen das “Ohr an der Wand“ und das Kind in seinem für ihn bestmöglichen Sinne “an der langen Leine“ halten. Zweifelsohne lang und im Laufe der Zeit mehr und mehr länger werdend, aber “an der Leine“. Wir müssen dem Kinde etwas zutrauen und darauf vertrauen, dass “es kann“. Vielleicht braucht es Hilfe, braucht es Halt. Dann geben wir ihm diese. Und dann, zu dem gegebenen Zeitpunkt der “Reife“, lassen wir diese unsichtbare “Leine“ los. Kann die Schule das alleine leisten? Um die Antwort vorweg zu nehmen: Nein, sie kann es nicht.

Jede Generation hat ihr Eigenleben. Ebenso jeder Mensch. Dem folgt das Primat der Erziehung. Der “Lehrkörper“ und “Schulkörper“ – beides Begriffe aus dem Schuldeutsch – haben sich entgegen all ihrer pädagogischen Möglichkeiten systematisch unter Selbsterzwingung gesetzt und am Ende darüber selbst begrenzt. Der engagierte Lehrer, welcher seinen Beruf liebt, leidet unter diesem Diktat begrenzter Möglichkeiten, wo er auf der einen Seite den Lehrplan erfüllen und auf der anderen Seite den Menschen bzw. die Kinder um sich hat, welche im Schulalltag zumeist weit davon entfernt sind, diesen “Plan“ zu verwirklichen. Ein Leugnen dieser Diskrepanz ist zwar verständlich, aber unwahr. In einer Zeit, wo die natürlichen Erziehungskräfte, gemeint sind die Eltern, eher kapitulieren oder ausfallen, aus welchen Gründen auch immer, stellt sich die Frage: Wer soll es denn machen? Wer bringt den Mut auf zur Erziehung? Elterliche Erziehung. Sie ist natürlicher als jede andere, auch als die professionelle Erziehung. Die Eltern: Sind sie es folglich? Die Antwort ist: Jein.

Allerdings, keine elterliche Erziehung auszuüben, weil sie dem Staat überlassen ist, ist unnatürlich und daher falsch. Wenn dem so ist, gibt es zwei Thesen:

Erstens : Mutter und Vater, also die Eltern, sind die natürlichen Erzieher des Kindes und bleiben lebenslang die natürlichen Erzieher ihres Kindes. Sie sind nicht nur rechtlich, sondern auch ethisch für das Kind verantwortlich.

Und zweitens : Da Mutter und Vater aus fachlichen und zeitlichen Gründen staatliche Erziehungsinstitutionen benötigen, müssen sie in Zusammenarbeit mit diesen ihre Erziehung wahrnehmen. Auch für den delegierten Bereich haben sie die letzte Entscheidungsbefugnis und müssen dort auch insistieren können. 

Was Kinder keinesfalls brauchen, sind als natürliche Erziehungsinstanz zermürbte Eltern. Sie brauchen in unserer nach Werten suchenden Zeit und beim Schwinden klarer Rollen und Sinne insbesondere Eltern, die elterliche Liebe, deren Geduld und Mut. Unabhängig von der persönlichen Lebensplanung der Eltern gilt: Dies ist eine starke Aufgabe, die zu schaffen ist! …

 

Buchhinweis:  Gustav Hoffmann und Peter-Alexander Möller, MUT ZUR ERZIEHUNG – Starke Kinder brauchen starke Eltern. Ratgeber-Essay. 156 Seiten. ISBN 978-3-735-78756-9.


Buchcover: “Ausflug in den Wald" © Jette Bækgaard

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